Der Geheimniskramer aus Groß-Siegharts

Einst war Groß-Siegharts Zentrum der Textilindustrie, geschickte Handwerker aus ganz Europa tummelten sich in den Straßen und Gassen der kleinen Stadtgemeinde.

Vom damaligen Textilboom ist heute nur mehr wenig spürbar. Die Zeit des Handwerks ist in Groß-Siegharts aber noch lange nicht vorüber, sie scheint sogar an einem neuen Höhepunkt angelangt.

ERZÄHLT VON RHEA TEMPER

 

In der Pâtisserie von Thomas Göttinger werden nämlich Köstlichkeiten aus den Schätzen der Region und aller Welt hergestellt, die unerkannt auf den Tellern edler Restaurants und bekannter Hotelketten landen. Von außen ist die Pâtisserie in Groß-Siegharts kaum wahrzunehmen. Das kleine Haus erregt kein großes Aufsehen, auffällige Werbetafeln oder lockende Sprüche sucht man hier vergebens.

Doch drinnen herrscht reges Treiben. Auf kleinem Raum reichen sich zahlreiche Feinbäcker Rührlöffel und Schneebesen und flitzen von einem Backofen zum nächsten. Überwacht wird das Geschehen von Thomas Göttinger.

Schon von klein auf steht er in der Backstube seiner Eltern, die zuvor den Großeltern und davor den Urgroßeltern das Überleben garantierte. Anders als die Generationen davor, entscheidet sich Göttinger jedoch nicht für eine Ausbildung zum Bäcker – er möchte Konditor werden.

Im Anschluss an die Lehrjahre im Waldviertel bricht er damals mit 18 Jahren nach Wien auf. Zuerst im Hotel Sacher, dann im Café Landtmann und später am Arlberg lernt Göttinger von den Konditormeistern seiner Zeit und landet schlussendlich im Alter von 24 Jahren auf einem Kreuzfahrtschiff. Während dieser Erfahrung bereist er 28 unterschiedliche Destinationen und entdeckt so die Marktlücke, die später aus dem kleinen, regionalen Handwerksbetrieb in Groß-Siegharts ein internationales Unternehmen machen wird.

Von der kleinen Bäckerei zur Edel-Pâtisserie

„Ich habe damals festgestellt, dass das Dessert immer als Stiefkind behandelt wird. Die wenigsten Köche machen gerne Feingebäck oder es fehlt an Platz, Zeit und den notwendigen Temperaturen. Mir wurde bewusst, dass genau hier ein Markt sein muss.“ So erklärt der Waldviertler seinen Schritt, das Kreuzfahrtschiff mit 26 Jahren zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren.

„Ich wusste es zu Beginn nicht besser, also habe ich im elterlichen Betrieb sechs Apfelstrudel und 40 Törtchen gebacken und mich hinter das Telefon gesetzt, um Abnehmer zu finden. Ich bin sogar nach Wien gefahren und habe dort unangemeldet Restaurants abgeklappert, um meine Tagesware loszuwerden. Dass das so nicht funktioniert, wurde mir jedoch ganz schnell klar.“

Zum Glück aber, sagt der Spitzenpâtissier, habe er immer ein bisschen mehr richtig als falsch gemacht. So auch 2001, als er der Liebe wegen nach Nürnberg geht und hier ein eigenes Unternehmen gründet. Innerhalb kurzer Zeit etabliert er sich dort und bindet deutsche Großhandelskunden an den Namen und die Qualität Göttinger. Während der Handel ausschließlich von Nürnberg aus gesteuert wird, produziert das kleine Konditoren-Team in Groß-Siegharts die Ware für den deutschen Markt.

Der findige Konditormeister reist alle paar Wochen in seine Heimat und Produktionsstätte, merkt aber nach acht Jahren, dass der stetig wachsende Produktionsbetrieb nicht mehr länger aus der Ferne geführt werden kann und kehrt deshalb zurück nach Groß-Siegharts. Die deutschen Großkunden bleiben dem Unternehmer treu, zusätzlich erschließt sich ihm aber nach und nach auch der österreichische Markt. Immer mehr namhafte Hotel- und Gastronomiebetriebe werden mit der Zeit auf das spezielle Handwerk Göttingers aufmerksam.

Göttingers Geheimnis

Die steigende Bekanntheit ist Göttingers Geheimnis zu verdanken: „Geschmack und Handwerk – das tragen wir ganz weit vorne. Das sind unsere Grundsätze, mit denen wir eine Nische besetzen können. Unsere Desserts sind geschmacklich gut und sie sind handgemacht – wir fertigen nichts maschinell an! Es macht einen besonderen Charme aus, dass nicht jedes Stück dem anderen genau gleicht.“

Und genau das schätzen die Pâtisserie-Kunden: Denn dass die feinen Desserts zugekauft sind, ist für den Endverbraucher – den Restaurant- oder Hotelgast – nicht erkennbar. Und schließlich sind die delikaten Süßspeisen ja auch tatsächlich hausgemacht. Nur werden sie eben nicht im Gastronomiebetrieb selbst, sondern in der Waldviertler Backstube handgefertigt. Selbstgemacht sind übrigens auch viele der Zutaten, wie Göttingers Vanillezucker oder das verwendete Karamell. Auf Geschmacksverstärker und Lebensmittelzusatzstoffe wird hier gänzlich verzichtet.

Dass dieses Geheimnis Früchte trägt, belegen auch die Zahlen: Jährlich verlassen mehr als eine Million Feingebäck den Groß-Sieghartser Betrieb. Dafür werden 18 Tonnen Schokolade, 125.000 Eier und rund 50.000 Liter Schlagobers im Jahr verwendet. Viele der Zutaten kommen aus der Region, wie beispielsweise die Eier oder das Schlagobers. Aber auch saisonale Rohstoffe wie Mohn und Kürbis stammen von nahegelegenen Landwirtschaften.

Besonders beliebt bei den Kunden sind das Schokomousse mit Himbeermark, das Erdbeer-Tiramisu und die Schokoladenlasagne. Kreative Grenzen kennt Göttinger nicht: „Die Pâtisserie ist eine Spielwiese ohne Ende. Wir bieten zum Beispiel auch Gemüsedesserts an oder backen mit Kräutern und Gewürzen von Sonnentor. Genauso produzieren wir aber auch nach den Wünschen unserer Kunden. Oft erhalten wir sogar Rezepte von Torten oder Desserts, wenn der Küchenchef in Pension geht und das Produkt in gewohnter Qualität bestehen bleiben soll.“

Die Inspiration für neue Kreationen findet Göttinger im täglichen Leben. Gerade im Urlaub wird oft und viel gekostet und anschließend im Betrieb ausprobiert. Selbst an die Rührschüssel muss Göttinger dazu allerdings nicht mehr. Seine 35 engagierten Mitarbeiter experimentieren mit neuen Zutaten und Techniken, während er das Verkosten übernimmt. „Ich bin sehr schwer zufriedenzustellen, es ist sicherlich nicht immer leicht für meine Mitarbeiter, meine Perfektion zu ertragen,“ schmunzelt er.

Dabei ist ihm stets bewusst, dass neben seinem Ehrgeiz und seinen guten Ideen, vor allem sein Team für den Erfolg des Unternehmens verantwortlich ist. „Genau deshalb ist hier der richtige Standort für den Betrieb. Ich habe ausgezeichnete Mitarbeiter, die „reißen“ wirklich an.“ Gut ein Drittel der Beschäftigten ist bereits seit der Lehre im Unternehmen und damit schon lange Teil der Göttinger-Familie. Und weil sich an diesem familiären Umfeld nichts ändern soll, wird hier auch künftig auf maschinelle Unterstützung verzichtet, und stattdessen werden weitere Lehr- und Arbeitsplätze geschaffen.

Der Grundstein dafür wurde auch bereits gelegt – 2018 soll die Produktionsfläche durch einen Zubau um ein Vielfaches vergrößert werden.

Neben den raffinierten Rezepten und der feinen Handwerkskunst ist es wohl Göttingers größte Gabe, Geheimnisse zu bewahren. „Der Gast will gut essen, er soll sich nicht fragen, warum das Dessert nicht im Haus gemacht wurde. Besonders der österreichische Konsument legt Wert darauf, dass Speisen hausgemacht sind. Das sind sie auch – nur eben in unserem Haus. Und dieses Geheimnis bewahren wir. Unsere Kunden schätzen die Anonymität, die wir gewährleisten – hier bei uns wird nichts verraten.“ Nicht einmal die Kunden selbst erfahren, wen das Waldviertler Unternehmen sonst noch beliefert. Möglich ist das Wahren dieser Geheimnisse vor allem aufgrund der Optionen, die die gelieferten Süßspeisen letztendlich bieten: Jeder Gastronom kann das Dessert mit eigenen kleinen Ergänzungen und Zusätzen anrichten, um ihm damit den individuellen Touch zu verpassen.

Auf diese Weise schafft Thomas Göttinger in Groß-Siegharts nicht nur Arbeitsplätze, er schafft hier vor allem einen Ort, der durch die vielen fleißigen Hände, die Liebe zum Detail und den Einsatz der hochwertigen regionalen Produkte an die Backstube so manchern Waldviertler Großmutter erinnert. Und das schmeckt man eben auch.

Aus der Wald4tlerin Ausgabe: 03/17
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